Schönheit der Präambel
Hätte ich bloss das Hemd mit den senkrechten Streifen gewählt. Die Welt wäre reicher, besser, die gepeinigten Seelen im Fegefeuer der Ungewissheit könnten endlich auf Erlösung hoffen.
Voller Lust und leichter Laune verliess ich mein Haus, flog über Zebrastreifen und Zwillingskinderwagen der Zentralbibliothek zu, stieg Stabreime stotternd die Stufen hoch, vorbei an Ausleihe und Aufsicht, hinein in den Lesesaal, an meinen Tisch. Heute würde es die Erde erfahren, würde ich ihr des Kudels kruden Kern kredenzen, die kapitale Kulminanz aller Kunst. Mit Bravour berserkerte mir der Bleistift übers Blatt, mit Brimborium bereitete ich das Buchstabenbeet auf die Beseelung, Besamung, Bereifung vor. Und da fühlte ich es auch schon, da flauste mir der Flaum ihrer Flügel auf das in hehrer Hoffnung hicksende Haupt. Fett und fröhlich gerann sie aus dem Gewöhnlichen zur genialen Gestalt unterm Giebel. Meine muntere Muse, die mutvolle Manifesta meiner mentalen Mäander. Sie schwebte zu mir herab, sie befeuchtete ihren Mund, sie spitzte ihre Lippen und drückte mir einen Kuss auf die Wange, der mir mit der plötzlichen Hitze eines Brandeisens durch Gehirn und Gedärme fuhr. Da war sie, die Antwort, das Aleph allen Aspirierens – und alles in mir stand aufrecht, Parade, Spalier, Rakete.
Doch dann schlug die Horizontale zu, überfiel mich auf einmal bleierne Müdigkeit. Wellen gleich, die sich wieder und wieder über den Ufersand schieben, plätteten mich die Waagerechten, zerschlugen meine Lust, zerkrümelten meine Konzentration, zerrieben alles Wache in mir, zerquetschten mir das grosse A zum kleinen Z. Und so sank ich ohne Widerwehr wattig weich und willig in die Arme meines Hemdes. Die Frage nach dem Wesen der Kunst war auf meinem Kopfkissen vorbereitet, eine Präambel von seltener Schönheit, ein Kelch aus Worten, bereit für den göttlichen Tropfen der Inspiration.
Ach, grausame Göttin der Gleiderwahl: Warum nur hast du meine Hand nicht zum Hemd mit den senkrechten Streifen geführt?
Erstmals erschienen in: ‹Schreiben über Kunst 2021›, AICA Schweiz / Schweizer Kunstverein