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Valentina Bischof, 24.06.2024

Über den Bildrand ins Offene: Silvia Bächli im Kunstmuseum Winterthur

Bildnachweis: Silvia Bächli, Lange rote Linien (Nr.10), 2022, Gouache auf Papier, 8 Blätter, Kunst Museum Winterthur, Ankauf mit Mitteln aus dem Lotteriefonds des Kantons Zürich, 2022. Foto: Serge Hasenböhler

Silvia Bächlis aktuelle Ausstellung versammelt Arbeiten der letzten Jahre und ist Rückblick sowie Ausblick zugleich: Bächli spürt der Darstellbarkeit der Dinge nach und deutet Momente der Veränderung an. Ausgangspunkt ist die zeichnerische Umsetzung von Körpererfahrung und Wahrnehmung.

Wie Finger greifen Linien in den Raum – Silvia Bächli (*1956 in Baden) hat in ihrer Arbeit Lange rote Linien, 2022, acht Papierbögen von je 102 cm x 72 cm zu einem Rechteck zusammengefügt. Die parallel verlaufenden Pinselstriche überbrücken den jeweiligen Papierspalt und weisen mit abnehmender Farbe über den linken Bildrand hinaus. Die Linien sind freihändig in roter Gouache gezeichnet und lassen in ihrer leichten Unregelmässigkeit auf die Handbewegung der Künstlerin und den Entstehungsprozess der Zeichnung schliessen. Wer folgt dabei wem? Die Hand der Linie oder die Linie der Hand?
Bächli setzt sich seit Ende der 1970er Jahre formal und konzeptuell mit dem Medium Zeichnung auseinander. In ihren Anfängen beschränkte sie sich auf Schwarz-Weiss und verwendete vorwiegend Tusche. Seit 2001 arbeitet Bächli an grossformatigen Papierarbeiten mit dezent farbigen Lineamenten. Ab 2008 treten die Farbfläche und ein malerischer Duktus vermehrt in den Vordergrund. Im scheinbar «Wenigen» und «Einfachen», in der Bescheidenheit der Mittel und in der konsequenten Auseinandersetzung mit sich wiederholenden Formen und Themen liegt die Kraft ihrer Arbeiten. Im Zentrum steht dabei die Linie: In grossen und kleinen Formaten, in Einzelarbeiten und Werkgruppen, in klassisch gerahmten Papieren an der Wand ebenso wie als Objekt oder Installation – die Linie ist mal figurativ, mal geometrisch. Oft wandert sie an den Rand des Blattes und lässt grosse Teile der Bildfläche frei. Zeichnen bedeutet für Bächli immer auch weglassen. Wichtig für die Wirkung ist die Leere, aber auch der Raum zwischen den Bildern. Seit den Achtzigerjahren stellt Bächli ihre Zeichnungen zu mehrteiligen Bildfolgen zusammen und zeigt sie als Ensembles. Monatelang sortiert sie ihr Bildmaterial, ordnet die Blätter rhythmisch und erprobt Kombinationen an den Atelierwänden und an Architekturmodellen. Aus dem Zusammenspiel benachbarter und kontrastierender Farbwerte und Formen sowie den Pausen dazwischen entsteht eine dialogische, raumgreifende Energie. Bächli betont ihre Verbindung zur Musik, wenn sie ihre Zeichnungen auch als «Töne» beschreibt, die sie als «Komponistin» auf den Ausstellungswänden wie Noten auf Notenblättern zu einem Stück zusammenfügt, das von den Betrachtenden interpretiert werden kann. Jede ihrer Installationen zielt somit auch auf die individuelle Wahrnehmung und Bewegung des Publikums hin.
Auch für die aktuelle Ausstellung im Kunstmuseum Winterthur Dass eins zum andern wurde. Welches welches ist? hat Bächli eine spezifische Anordnung der Bilder konzipiert, die neue Perspektiven auf ihr Werk ermöglicht. So antworten auf Lange rote Linien vertikale Pinselstriche, die in lasierenden Grün- und Brauntönen von oben nach unten fliessen, sowie zwei Werke mit drahtartig verzweigten Linien. Den Auftakt bildet ein Auszug aus Poem der amerikanischen Lyrikerin Elizabeth Bishop. Das Gedicht umkreist die Themen: Leben, Erinnerung und Veränderung. Die Zeile «Dass eins zum andern wurde. Welches welches ist?» hat Bächli programmatisch als Titel der Ausstellung gewählt. Passend dazu ist in der Ausstellungsmitte die Bilderserie Lidschlag platziert. Es handelt sich dabei um eine Folge von seit 1983 entstandenen Zeichnungen, die in Kartons verstaut waren und bisher nur in Buchform 2004 veröffentlicht wurden. In einer konzentrierten Auswahl wird nun erstmals ein Werk aus jedem Jahr gezeigt. So wird die Entwicklung des künstlerischen Schaffens bis 2003 nachvollziehbar, das Frühwerk räumlich in das Spätwerk eingebettet und die Bilder zueinander in Beziehung gesetzt. Der Ausstellungsrundgang zeigt: Bächli praktiziert die offene Form. Sie selbst beschreibt ihre Arbeitsweise als Annäherung an etwas, das sie nicht genau kennt und das sie erst im Tun herausfindet. Im besten Fall entdeckt sie etwas, das überraschender ist als ihre eigene Vorstellung. Meist beginnt sie ihre Arbeit mit einer Frage im Kopf. Und die könnte lauten: Was bedeutet es, einen Strich zu ziehen? Ein Zeichen zu setzen? Wie fühlt sich das von Innen an?


Silvia Bächli –Dass eins zum anderen wurde. Welches welches ist?, Kunstmuseum Winterthur | Beim Stadthaus, bis 18.8.