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Angelika Affentranger-Kirchrath, Valentina Bischof, Adrian Dürrwang, Barbara Fässler, Sonja Gasser, Samuel Herzog, Claudia Jolles, Tugce Kaprol, Deborah Keller, Gerhard Mack, Daniel Morgenthaler, Marc Munter, Aoife Rosenmeyer, Elisa Rusca, Andrin Uetz, 18.12.2023

«verstehen» — Das Problem des Anderen im Helmhaus Zürich und wie sich darüber schreiben lässt…

Sandra Boeschenstein, Installationsansicht des In Situ-Beitrags zur Ausstellung «verstehen» – Das Problem des Anderen, Foto: Zoe Tempest

Wie lässt sich eine thematische Gruppenausstellung in einen kurzen persönlichen Text fassen? Im Rahmen des jährlichen AICA-Workshops «Schreiben über Kunst» luden wir die Teilnehmenden angesichts einer Schau im Helmhaus zu einem Testlauf ein. Eine Auswahl der vor Ort entstandenen und diskutierten Mikrokritiken zeigt die Bandbreite auf, mit der die Schreibenden auf die Herausforderung reagierten. AICAramba – lassen Sie sich überraschen!

Begreifen lernen
Als ich zwei Schritte machte, zeigte der Screen 16 Stundenkilometer an. So schnell war ich noch nie. Simon Risi hat im Obergeschoss des Helmhauses eine Anlage installiert, die misst, wie rasch wir durchs Museum gehen. Aber so exakt sie auch daherkommt, so fehleranfällig ist sie. Die Welt beobachten und verstehen – was tun wir nicht alles dafür! Wir entwickeln Maschinen, berechnen Naturgesetze und straucheln immer wieder darüber, dass wir das Einfachste nicht begreifen. Davon handeln 16 Zürcher Kunstschaffende im Helmhaus. Am eindrücklichsten Sandra Boeschenstein: Sie versteht mit ihrem Körper, intim und universell zugleich.
Gerhard Mack

Simon Risi, simply sleepy or 9.8 m sequence of associations, 2023
Installation, diverse Materialien, drei Geschwindigkeitsmessanlagen, Foto: Zoe Tempest

Verstehen
Der Sand rieselt, die Zeit vergeht. Kurzzeitig werden zwei Wandprojektionen von Lisa Bärtschi auf einem Sandvorhang in der Raummitte zu einem Bild vereinigt. Was technisch fasziniert und ästhetisch anspricht, bringt Sinnhaftigkeit in die beiden zunächst rätselhaft erscheinenden Projektionen. Gegenwartskunst ist zuweilen sperrig, der Zugang schwierig. Das Helmhaus Zürich zeigt in der aktuellen Ausstellung Positionen, die sich auf vielschichtige Weise mit dem Verstehen auseinandersetzen. Verweilen, einen Sinn finden, dabei scheitern oder geschwind durchrasen, das ist alles erlaubt!
Sonja Gasser

Epistemologien des Augenblicks  
Zwei unvollständige Bilder werden an gegenüberliegende Wände projiziert. Aus einer Wanne fällt ein Vorhang aus Quarzsand, auf dem die zwei Projektionen zusammenkommen. Für einige Sekunden ergibt sich ein stringentes Bild. Das Verstehen zeigt sich als ephemerer Moment der Übereinstimmung zweier Perspektiven. Die kinetische Arbeit von Lisa Bärtschi zeigt exemplarisch die Möglichkeiten einer bildnerischen Auseinandersetzung mit den Epistemologien der Gegenwart. Unter dem Titel «verstehen» versammelt das Helmhaus verschiedene Positionen, welche eine positivistische Idee des Verstehens in der Wissenschaft mit künstlerischen Interventionen verkomplizieren.
Andrin Uetz

Installationsansicht «verstehen» – Das Problem des Anderen mit Werken von Sasha Huber (links, Same Mother, 2017) und Lisa Bärtschi (rechts, Reàlnost, 2023), Foto: Zoe Tempest

Feuerpause
Auf einem Vorhang aus rieselndem Sand leuchten die Worte «FEU», «EAU» und die Ziffern einer Uhr auf. Vor Lisa Bärtschis performativer Installation lasse ich mir den Titel der Schau durch den Kopf rollen: «verstehen», althochdeutsch «firstan» – ein Wort mit martialischem Ursprung? Um-Stehen, Feuer, Feuerpause? Auch Sandra Boeschenstein zieht Grenzen auf und durchstösst sie. Aus einem in die Wand gebohrten Loch schaut mir ein Auge entgegen, die gezeichneten Planeten richten den Blick wie Linsen auf den Köper der Künstlerin. Hier geht’s um ein anderes Ver-Stehen. Kein «understand», keine Unterwerfung, sondern Nähe und Distanz, körperlicher Hingabe und Sinnlichkeit.
Claudia Jolles

Verstehen zum Glück
Ums Verstehen von Kunst als immer schon etwas Anderem geht’s gerade im Helmhaus Zürich: in der Gruppenschau «verstehen» mit 16 Künstler:innen aus der Schweiz. Wobei sie das Verstehen gleich selbst zum Thema ihrer Kunst machen und Verständlichkeit wie Verständigung verhandeln.  Wie Lisa Bärtschi, mit einer Videoprojektion aus Zeichen, Zahlen und Wörtern wie «eau» und «feu» auf fliessenden Sand oder Susanne Keller mit einer Kakophonie aus 387 gleichzeitig ertönenden Gesprächen in einem Wunderland aus viel Tand. Natürlich unverständlich. Ein Glück, müssen wir die Kunst letztlich selber verstehen und wird sie nicht bloss verständlich gemacht.
Marc Munter

Ich verstehe das leider nicht!
Unverständnis, Missverständnis oder auch Irritation… unser Unvermögen in Bezug auf Kunst lässt sich differenziert beschreiben. Die Ausstellung «verstehen» im Helmhaus sucht genau hier das Potenzial. Womöglich wenden wir uns mit Befremden von Susanne Kellers «poetischer» Essenz aus 387 Interviews aus dem Kunstkontext ab: Einem bunten Tempelgebilde – höchst subjektiv – irgendwo zwischen kitschiger Opfergabe und Schlaraffenland. Oder wir landen, auch nach dem Nutzen des Handspiegels bei Lisa Schiess‘ verkehrtem Schrift-Werken, schliesslich wieder bei Kafka! Und zum Schluss misst Simon Risi gar mit Bewegungsmeldern das Tempo, mit dem wir die Schau wieder verlassen. Ob das als offizieller Gradmesser unserer Verständnislosigkeit gelten kann?
Adrian Dürrwang

Susanne Keller, Volkstanz, 2017–2023, Choreographisches Objekt, Foto: Zoe Tempest


Verstehen beginnt im Bauch
Es ist ein buntes Haus der Vielfalt: Tausende Pailletten, Perlen, Papierschnipsel und anderen Tand hat Susanne Keller mit viel Liebe zum Detail zu einem zauberhaften Pavillon gefügt. Er ist Teil der Gruppenschau im Helmhaus, die sich ums ‹verstehen› und um ‹Das Problem des Anderen› dreht. Diesem «Problem» stellte sich Keller lustvoll: Sieben Jahre lang befragte sie zig Personen dazu, was ihnen wichtig ist, was sie beschäftigt. Die Antworten ertönen als kakophones Summen aus dem Inneren der fragilen Architektur. Nichts ist wörtlich verständlich. Doch dass diese Arbeit ein Herzstück der Ausstellung ist, erfasst man intuitiv.
Deborah Keller

Kopfschütteln an der Limmat
Unter allen zwischenmenschlichen Beziehungen sind die Verst-ehen die fürchterlichsten. Im Unterschied zu Zwangsehen und Zweckehen werden sie deshalb nur noch im Zürcher Helmhaus geschlossen. Auch der Ver stehen (azephalus erectus), einst ein König im Reich der Würmer, kringelt sich dieser Tage nur noch da und dort im Gartenhumus. Ähnlich selten kommt es vor, dass mit echtem EiVer St. Ehe noch heute gehuldigt wird. Der Vers-teh hingegen wird selbst an Verstehenissagen gelegentlich serviert – meist ohne N und aber. Und wenn man Glück hat, denn rennt einem eine Verst-hen über den Weg – ein Sonderfall im Reich der Hühner. Wo sie ein V erstehen kann, brütet sie es sogleich zum kopfschüttelnden Nehetsrev aus.
Samuel Herzog

Il problema dell’Altro
Es geht um Grenzen, pardon, es geht um that in between ‘you’ and ‘me’. The show celebrates the glitch, such as the one between Sasha Huber’s and her brother’s faces glued together in one same portrait called Same Mother, 2017: quella distanza fisica e immaginaria che unisce distorcendo, come tradurre, o cucire scampoli di tessuto, o leggere scritte specchiate nel rovescio della memoria. A glitch, a blank, a hole, and the words of Sandra Boeschenstein who asks: Sind wir innen schattig oder einfach ohne Licht? Our own otherness is known only to ourselves: and in this, we are all the same.
Elisa Rusca

Odradek
Ist Verstehen überhaupt möglich? Die Ausstellung im Helmhaus Zürich belegt, dass es unmöglich ist und thematisiert es doch vielseitig und eigen. Lisa Schiess etwa fasst die Unmöglichkeit in Kafkas Romanfigur Odradek zusammen. Es ist eine geheimnisvolle Unfigur, der sie in ihrer Kunst nachstrickt. Die Figur wird bei ihr zu einer Strickware, durch die eine Masche wie durch eine Schlucht fällt. Die Teile der beiden Hälften finden nicht zueinander. Oder doch? Man braucht nur die Kluft zu überwinden oder zu einem der bereitliegenden Handspiegel zu greifen und die in Spiegelschrift verkehrt geschriebenen Zeilen der Textzitate zurechtzurücken. Und der Text ist lesbar. Aber ist er dadurch auch verständlich geworden?
Angelika Affentranger-Kirchrath

Lisa Schiess, Odradek, 1991, Strickwerk mit Laufmasche auf Hocker,
100 m synth. Reepseil, verstrickt, ca. 50cm x 100cm, 2 Plexiglas-Stäbe, Foto: Zoe Tempest

Profound exploration of understanding
The exhibition prompts a reconsideration of the complexity of interpretation and the artist-curator-audience relationship. While visitors often blame artists or curators when they challenge our comprehension, intricate works like Lisa Schiess’s Odradek im Spiegelland reveal intentional engagement with complexity. Machines and microaggression-themed art encourage a reevaluation of observation. Playful installations challenge perceptions of physical space, questioning what qualifies as art and how tension influences our understanding. The exhibition sparks introspection. This profound exploration of understanding, both within and beyond art, catalyses nuanced dialogue on evolving creator-interpreter dynamics, which fits well with the subject.
Tugce Kaprol

Five encounters
This exhibition offers neither solid ground nor clear thesis to prove or disprove. First encounter – an absent sparring partner, an empty face. Second encounter – a fleeting image only visible for seconds a day when two images cross on a wall of sand. Third encounter – writing that becomes legible while looking over your shoulder. Fourth encounter – a hive of voices inhabiting a fantastical temple. Later, a primer on ingrained racial micro-aggressions – just when I think I might learn something, I am drawn into conversation, the topic framed in references beyond my comfort zone. Outside, untethered, for a moment I am not the centre of my own universe.
Aoife Rosenmeyer

«Verstehen» verstehen? 
Ob Spiegelbilder, Selbstbildnisse, Sprachlabor oder postkolonialer Blick: Die aktuelle Kunstausstellung im Helmhaus Zürich befasst sich aus unterschiedlichen Perspektiven mit einem Phänomen, das vermeintlich beim Gegenüber beginnt und doch von der eigenen Person nicht getrennt werden kann. So verweist der durchaus ironisch gemeinte Titel: «verstehen» – Das Problem des Anderen, auf die Möglichkeit des Missverstehens im Austausch mit dem «Anderen». Zugleich elaboriert die Ausstellung auf kunstvolle und (selbst-)kritische Weise Formen des Verstehens eben dieses Prozesses, ohne zu viel erklären zu wollen.
Valentina Bischof

AICA-Workshop «Schreiben über Kunst», Cabaret Voltaire, 26.11.2023, Foto: Samuel Herzog

Verstehen verstehen
Die Ausstellung «verstehen» im Helmhaus spricht etwas an, das uns in der Kunst und im Leben überhaupt aufs Glatteis bringt. Ist gemeint, uns selbst, das Wort oder den Prozess des Verstehens, zu vestehen? Der Begriff «verstehen» hat etwas Autoritäres. Als gäbe es EINE Art, wie etwas verstanden werden kann. Es ist richtig und wichtig, die Frage zu stellen. Endlich. Aber ist es auch richtig, in der Erwartungshaltung zu verharren in der Hoffnung, dass es «verstehen» wirklich geben kann? Oder müssen wir uns damit abfinden, dass wir immer wieder die Frage stellen, aber keine Antwort finden?
Barbara Fässler


AICA-Workshop im Cabaret Voltaire, Zürich, am 26.11.2023 zur Ausstellung «verstehen» – Das Problem des Anderen, Helmhaus, Zürich, 6.10.2023–7.1.2024