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Daniel Morgenthaler, 27.10.2022

Wie soll man jetzt sagen? Die Biennale Venedig 2022 und der Krieg in Europa

Giannina Censi, Danza Aérofuturista, 1931 (Ausstellungskapitel Seduction of the Cyborg), Foto: Werner Egli

Eine Metakritik der Berichterstattung zur Biennale Venedig 2022, inspiriert von den kollektiven Analysen unterschiedlicher Kunstkritiken zur selben Ausstellung in den AICA-Workshops der vergangenen Jahre – nur halb so schön, weil ganz alleine …

Exakt zwei waren antisemitisch. Wie viele Köpfe insgesamt in der documenta fifteen in Malereien, Transparenten, Performances etc. auftauchen, lässt sich nicht einmal bei einem Live-Besuch sinnvoll zählen. Und wie viele Köpfe an dieser Grossveranstaltung mitarbeiten, ist bei dieser Ausgabe, bei der Kollektive Kollektive einladen, die Kollektive einladen, ebenfalls kaum zu definieren. Eine Grossausstellung wie die Documenta ist immer ein «Many-Headed Monster» – was der Ausgabe 2022 prompt zum medialen Verhängnis wurde. Zwei Köpfe dieses Monstrums wurden irgendwie übersehen, bis eigentlich nur noch diese beiden sichtbar waren.

Verantwortliche von anderen solch vielköpfigen Hydren sind angesichts der hitzigen Kontroversen um die documenta fifteen sicherlich froh, wenn nicht irgendeiner ihrer Köpfe plötzlich etwas Falsches sagt oder aussagt. Vor allem, wenn einer dieser Köpfe sogar ein AI-gesteuerter Roboter ist, wie an der Biennale Venedig. Hier ist Ai-Da Robot zwar nur Urheberin eines «Collateral Events», einer assoziierten Nebenausstellung zur Haupt-Schau The Milk of Dreams der New Yorker Kuratorin Cecilia Alemani. Dennoch illustriert Ai-Das Bild (und nicht etwa ihre Bilder) den Artikel von Barbara Basting (AICA Schweiz-Mitglied) zur diesjährigen Biennale in der WOZ.

Joanna Piotrowska, Untitled, 2016/18, Courtesy Madragoa, Thomas Zander, Dawid Radziszewski, Foto: Werner Egli

Womit wir schon bei einem weiteren «Many-Headed Monster» sind: der Kunstkritik zu einem Mega-Event wie der Documenta oder der Venedig-Biennale. Es ist paradox entspannend, dass auch die Berichterstattung zu künstlerischen Grossveranstaltungen so unentspannt ausufernd und vielstimmig ist, wie die Gross-Events selbst es sind (Zu diesem Thema siehe auch: ABC der Mega-Kritik, in: Schreiben über Kunst 2018, S. 9–23). Das bedeutet immerhin, dass wenigstens in diesem Fall Kunstkritiker:innen noch unhinterfragt gefragt sind – und dass mit ihrer Hilfe fast jede grosse Zeitung möglichst schnell eine Meinung gebildet haben will. Die Redaktion des Online-Diensts art-agenda thematisiert dieses Tempo in einem Editorial: Auf die Frage, weshalb sich eigentlich die Kunstkritik so stressen lässt, antwortet sie mit der bedenkenswerten Sentenz: «The best argument for stress-inducing deadlines is […] that they force art critics into getting it wrong.» Aus den Fehlern der Kunstkritiker:innen lässt sich dann lernen.

«…der bei der Konzeption der Ausstellung noch gar nicht absehbar gewesene, brutale russische Angriffskrieg [lässt] das diesjährige Fehlen grosser Machogesten in der Hauptausstellung als Zukunftsentwurf fast prophetisch erscheinen…»

Ann-Katrin Günzel, Kunstforum International

Vielleicht war das auch die Hoffnung der WOZ und ihrer Autorin Barbara Basting; ihre Rezension zur Biennale erschien so spät (in der Ausgabe vom 9. Juni, wo die Biennale dieses Jahr doch bereits am 23. April offiziell startete), dass ich als regelmässiger Leser des Blattes mich schon gefragt hatte, ob ich die Meinung der WOZ zu Venedig in der schmalen Zeitung irgendwie verpasst hätte. Wir wissen alle, dass dieses späte Erscheinen keineswegs bedeutet, dass der Text nicht unter dem Druck einer frühen Deadline geschrieben wurde, nur um dann von den Blattmacher:innen immer wieder zeitlich nach hinten verschoben zu werden (wie gesagt, der Platz ist knapp und Kunst gut verschiebbar). Der Text wirkt auch nicht wie eine eigene kleine Metakritik, in der die Autorin bequem auf andere Kritiken referiert; vielmehr klopft Barbara Basting die Hauptausstellung der Biennale rigider und stringenter als der Hauptchor der – früheren – Kritiker:innen auf ihre Relevanz in Zeiten des «Krieges in Europa» ab. Mit dem Fazit, dass die Ausstellung uns «ratlos» zurücklasse. Ist das vielleicht einer dieser möglichen Fehler, die die art-agenda-Leute so produktiv finden? Weshalb soll uns ausgerechnet eine Ausstellung diesen «Krieg in Europa» erklären, die puncto Künstler:innenauswahl und Inhalten offenkundig weg will von Eurozentrismus?

Wie bei Barbara Basting steht auch bei Antje Stahl im Online-Magazin Republik der Krieg im ersten Satz. Doch schreibt die Kunstkritikerin auch – am 27. April, also etwas näher am Eröffnungsdatum –, «es wäre verfehlt, alles [an dieser Biennale] durch die Brille dieser Kriegs-Jetzt-Zeit zu betrachten». Antje Stahl scheint tatsächlich von den Fehlern der anderen Kritiker:innen lernen zu wollen: In einem metakritischen Absatz fasst sie die bisherige Kritik zur Ausstellung – zum Beispiel an deren «Esoterik» – zusammen. Kulminieren lässt sie den Abschnitt in einem Link zum vergleichsweise kurzen (er ist ja auch vom 22. April …), aber umso vernichtenderen Text von Sandra Danicke in der Frankfurter Rundschau, in dem die «Hilflosigkeit der Kuratorin» beklagt wird. Die Republik-Autorin schliesst sich dem zumindest teilweise an, allerdings selbst etwas verunsichert mit einem «wie soll man sagen» – lässt also ausgerechnet wieder einen Mann mit einem «n» sprechen. Am Ende lässt mich ihr Text, wie soll ich sagen, etwas ratlos, vielleicht, zurück.

Gabriel Chaile, Genealogia de la forma, 2019, Foto: Werner Egli

Die Reaktion von Ann-Katrin Günzel in der Biennale-Ausgabe von Kunstforum International – die als Ganzes textlich und fotografisch so ausufert, dass sich die Reise nach Venedig schon fast erübrigt – fängt nicht mit dem Krieg an, aber mit einem zu langen Satz. Später im Text kommt der Ukraine-Krieg doch noch vor, als Folie, die «das diesjährige Fehlen grosser Machogesten in der Hauptausstellung als Zukunftsentwurf fast prophetisch erscheinen lässt». Nur fast? Ich würde eher sagen, ganz! «Die Ausstellung The Milk of Dreams öffnet genau zur richtigen Zeit zahlreiche […] Imaginationsräume», schreibt sie. Auch J. Emil Sennewald beobachtet in seinem Text fürs Kunstbulletin an sich selbst, dass er sich an einer Hauptausstellung der Biennale selten «so jetzig» gefühlt habe – und schliesst seinen Text auch leicht pathetisch mit dem Wort «Jetzt». Bei Sandra Danicke in der Frankfurter Rundschau heisst der Titel noch «Zur falschen Zeit am falschen Ort».

Während der Kunstbulletin-Kritiker eingangs schreibt: «Natürlich könnte man [!] sich über Jugendstil-Ästhetik aufregen», ist Hanno Rauterberg – am 21. April, Rekord! – in Die Zeit noch vorsichtiger, wieder mit «fast» und «man»: «Fast möchte man es einen neuen Jugendstil nennen.» Um dann weiter zu argumentieren, dass die Ausstellung wohl auch Gentechniker:innen und Technikfantast:innen des 21. Jahrhunderts gefällt, mit den darin proklamierten «Ideen der permanenten Wandelbarkeit des Menschen».

«Es wäre verfehlt, alles [an dieser Biennale] durch die Brille dieser Kriegs-Jetzt-Zeit zu betrachten.»

Antje Stahl, Republik

Und vielleicht gefällt sie auch Nostalgiker:innen des frühen 20. Jahrhunderts – also der Zeit des Jugendstils –, als das vermeintlich Andere noch exotisiert und zelebriert wurde? Ich habe das zwar noch nirgends gelesen – wie gesagt, auch die Biennale-Berichterstattung ist ein schwer zu bändigendes «Many-Headed Monster» –, aber mich doch beim Besuch der Biennale manchmal, wie soll ich sagen, gefragt, ob hier nicht auch eine Lust am Exotischen befriedigt wird: indem ein möglichst schillerndes Spektrum an Kunstwerken aus vielerlei kulturellen Kontexten für den bequemen, aber doch nur Privilegierten vorenthaltenen, Konsum in Venedig zusammengetragen wird. Ohne dass die hier versammelten Inhalte wirklich in ihrer ganzen Komplexität produktiv gemacht werden könnten. Dass die Künstlerin Simone Leigh aus dem US-amerikanischen Pavillon eine afrikanische Hütte macht, ist eine Geste der Selbstermächtigung und Überschreibung – aber doch auch von der Erinnerung an Völkerschauen kontaminiert. Die Verwandlung des Eingangs der Documenta-Halle mit Wellblechplatten durch das Wajukuu Art Project wirkte auf mich im Vergleich selbstermächtigender. Vielleicht, weil hier die überschreibende Geste von einem Kollektiv getragen ist, über dessen Hintergrund ich dann auch einiges erfahre?

Sowieso, das Kollektiv: Könnte es auch in der Kunstkritik helfen, Fehler zu vermeiden? Denn wer sagt mir, dass ich mit meiner Kritik an der Kritik hier nicht genauso grobe Fehlschritte mache? Womit wir auch wieder bei der kollektiven Analyse von Texten in den AICA-Workshops wären; Ende November, remember.



La Biennale di Venezia, The Milk of Dreams, 23.04. – 27.11.2022