Zeichnen im Du
Das rotierende Schwarz legt es nahe. Du gibst dir eine Höllenmühe, stemmst das Mehrfache deines eigenen Gewichts. Genau besehen aber baumelst du an deiner Hantel, die deinen Körper gereckt über dem abschüssigen Boden hält. ABC klemmt dir den Kopf zwischen die Unterarme, zeigt dich in Triumph und Verzweiflung zugleich. Woher, Kind, bist du aufgetaucht? Aus dem Physikbuch gefallen? Einem Traum entlaufen? Bist du eine Flause? Ich les dich grad als temporäres Selbstbildnis – zu viel, zu schwer, auf keinen Fall nachlassen jetzt! Noch offen, an wen er sich richtet, könntest du Heldin meines allerersten Comicstrips sein. Unerschrocken nehme ich dich, kämpferisch und klein genug, dass deine Kühnheit staunen lässt. Rühren wir die dürren Vektorkräfte an? Streichen wir das ABC? Und wenn: Hältst du die Freiheit aus, oder ist’s leichter, zu leiden am Marschbefehl des Alphabets? Lange Leinen bringen auch auf Rollen nichts voran.
«Unbeschriebenes», las ich bei einer Dichterin vor Langem, «bildet das Geheimgut dieses Sterns.» Drum hätt ich Lust, hier das Gesetz der Schriftlichkeit zu bannen und dich nach deinem Gusto tanzen zu lassen. Noch ist alles Versuch. Trainiert sind wir, uns definitive Reime zu machen und jeden Anflug von Bedeutung zu organisieren.
Fangen wir also klein an, jenseits von Trophäen der Wertschöpfung, in Nähe und Komplizenschaft. Wirf das Erinnerte ins Weiss des Papiers, kitzle dein Erleben auch im Provisorium aus dem Blatt, trau deinem subjektiven Protokoll eine treffsichere Botschaft zu. Mein Auge wird dir folgen und erkennt mich selbst am ungesicherten Strich. Kompliziert bleiben die Verhältnisse aller Schwerkraft sowieso und utopisch die Autonomie. Ist nicht glücklich, wer für Augenblicke nichts weiss davon? Dein Spielgefährte (2) verlässt sich drauf, dass die Beschwerung (1) seine Wenigkeit wettmacht und ihm der hampelnde Sprung gelingt, bevor sein Standort (3) selbst ins Gleiten kommt. Flugs aufgezeichnet, ist er, bist du, sind wir nicht mehr allein.
Erstmals erschienen in: ‹Schreiben über Kunst 2021›, AICA Schweiz / Schweizer Kunstverein