Lasst der Toten ihre Ruhe! Milo Rau, Grosser Kulturpreis der St. Gallischen Kulturstiftung

Maria Pappa ist eher für ihre unkomplizierte Leutseligkeit als für ihre Analysefreude bekannt. Doch für einmal traf die St. Galler Stadtpräsidentin umstandslos ins Schwarze. Beim Apero-Bier nach der Verleihung des Grossen Preises der kantonalen St. Gallischen Kulturstiftung an Milo Rau erzählte sie eine kleine Geschichte aus ihrer Familie: Ihre Eltern fühlten sich inzwischen weder im alten Heimatort in Italien noch hier in der Schweiz zuhause, wo sie seit vielen Jahrzehnten leben. Wenn sie bei der Familie im Süden zu Besuch sind, empfinden sie eine Entfremdung, kommen sie zurück in die Schweiz, ist da noch die alte Distanz. Wie mag es da der Schepenese gehen?
Die wohl bekannteste ägyptische Mumie in der Schweiz ruhte rund 2400 Jahre in ihrer Grabkammer in der Anlage des Hatschepsut-Tempels in der Nekropole in Theben-West, dem heutigen Luxor. Schepenese war dort eine Priestertochter, um 610 v. Chr. vermutlich im Alter von gut 30 Jahren gestorben und nach den Regeln der Kunst einbalsamiert und zur Ruhe gebettet worden. Diese Ruhe hatte bis etwa 1820 gedauert. Damals gelangte sie über den deutschen Kaufmann Philipp Roux nach St. Gallen. Der Landammann Karl Müller von Friedberg hat sie erworben und noch im selben Jahr der Stiftsbibliothek übergeben, wo sie aufgebahrt wurde. Seither liegt sie dort inmitten der ehrwürdigen Codices und alten Bücher, gebettet nicht nur neben den zwei bemalten und beschriebenen Särgen, sondern in einem Glassarg eingeschreint in eine der zentralen Kultstätten des Abendlandes. Tagsüber von St. Galler Schulkindern und von Tourist:innen aus aller Welt bestaunt und begafft, abends liebevoll mit einer Decke zugedeckt und mit dem versammelten Wissen allein. Ein während Corona restauratorisch aufgefrischtes Memento Mori und eine Attraktion zugleich.
Ob ihr das behagt, ob sie sich von dem altägyptischen Spruch über dem Eingang zum barocken Bibliothekssaal «Heilstätte der Seele», der auf Ramses II. zurückgeht, getröstet fühlt, wissen wir nicht. Immerhin erfährt sie tagein, tagaus eine Beachtung, die nach ägyptischer Vorstellung ewiges Leben gewährt. Ob sie sich in der abendländischen Bücherarche wohlfühlt? Ob sie Sehnsucht nach ihrer Gruft hat, nach der kühlen Stille und Einsamkeit dort? Oder ob sie froh ist, geborgen und wie ein Augapfel behütet in der modernen Schweiz als Botschafterin an die vergangene Hochkultur ihres Landes zu erinnern? Wo ihr Ägypten sie heute gar nicht haben will und doch vor allem als Militärdiktatur zur Sprache kommt, in der die Bevölkerung mit brutaler Gewalt unterdrückt ist, und in dem die Demokratiebewegung des Tahrir-Platzes von 2011 bestenfalls noch eine Fata Morgana über dem Wüstensand ist. Und überhaupt: Wie ist sie von dort weggekommen? Wir müssten eine besonders intensive Art des Channeling beherrschen, wollten wir das erfahren. Schon gar, wenn wir beschliessen wollten, dass sie noch einmal auf die weite Reise zurück in ihr Herkunftsland gehen sollte. Würden wir sie nach 200 Jahren Eingewöhnung verstossen, zurückstossen in die Emigration wie die Wirtschaftsmigrant:innen, die wir am liebsten in ihre Ausgangsländer zurückschicken würden, und uns dann nicht mehr um sie kümmern, weil sie dann ja sozusagen wieder zuhause und unter Tausenden ihresgleichen irgendwo in einer Glaskiste abgelegt wäre, oft unbedeckt, also nackt, wie sie es in St. Gallen nicht ist?
Milo Rau hat genau zu dieser Rückgabe aufgefordert und will sein Preisgeld von 30’000 Franken dafür zur Verfügung stellen. Er ist einer der wenigen Zeitgenossen, die über verlässliche Zugangswege ins Reich der Verstorbenen verfügen. Dass seine «St. Galler Erklärung» zahlreiche faktische Fehler enthält, mag mit dieser transzendenten Ader zu tun zu haben. Als koloniale Schande hat er die Anwesenheit Schepeneses in der St. Galler Stiftsbibliothek bezeichnet und am Nachmittag vor der Preisverleihung eine Attrappe der Mumie auf einem Holzwagen in einer Prozession durch die Stadt gezogen. Rund hundert Begeisterte sind ihr durch die alten Gassen gefolgt wie früher die Katholik:innen der Monstranz mit der Hostie. Im Ausstellungssaal des Kunstmuseums in der LOK gleich beim Bahnhof wurde dann bei einer Podiumsdiskussion der Leiter der Stiftsbibliothek, Cornel Dora, soweit in die Enge getrieben, dass er eher einen melancholischen Clown spielte als den Fachmann, der er ist. Und eine Ägyptologin der Universität in Assuan durfte all die schönen Versatzstücke von der neokolonialistischen westlichen Kultur, den alten weissen Männern, der unangebrachten westlichen Museologie und der Beschädigung von Frauen verquirlen, wie es keine Kuchenbäckerin mit ihrem Teig hätte besser machen können. Es war, als hätte Milo Rau, der sich in seiner Dankesrede als «Ultra-St. Galler» bezeichnete, die Preisverleihung als sein neustes Theaterstück inszeniert. Die Posse geht inzwischen mit einer SP-Interpellation im Stadtparlament weiter. Provinz ist oft dann am meisten bei sich selbst, wenn sie glaubt, mit der grossen Welt in Einklang sein zu müssen.
Milo Rau: Warum Kunst?, Kunst Halle Sankt Gallen, 17.11.–18.12.2022