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Valentina Bischof, 05.05.2025

Patchwork der Geschichte: Małgorzata Mirga-Tas im Kunstmuseum Luzern

Małgorzata Mirga-Tas, Re-Enchanting the World, 2022, Stoff, Acryl und Mixed Media auf Keilrahmen, Ausstellungsansicht Kunstmuseum Luzern, 2025. Foto: Marc Latzel

Mit Nadel und Faden vernäht Małgorzata Mirga-Tas Legenden und historische Quellen, Fremd- und Selbstzuschreibungen zu textilen Kunstwerken und lädt dazu ein, sich damit auseinanderzusetzen. In ihrer derzeitigen Ausstellung Eine alternative Geschichte erzählt sie aus feministischer Perspektive von der Gemeinschaft der Rom*nja.

Was in den textilen Bildwelten von Małgorzata Mirga-Tas (*1978) sofort auffällt, sind die schillernden, selbstbewussten Frauenfiguren. Ebenso die gemeinschaftliche Lebensweise. Diese zeigt sich etwa beim Kartenspielen, Handarbeiten, Kartoffelernten oder Sargtragen. Die Künstlerin und Aktivistin lebt und arbeitet in Czarna Góra, einem Dorf der Rom*nja in Polen. Freunde und Familie finden sich als Motive auf den Patchworks wieder und sind teilweise an der Herstellung der Werke beteiligt. Viele der Materialien stammen aus deren Haushalt und tragen persönliche Gebrauchsspuren. Neben glitzernden Pailletten und feinen Stickereien sind Federn, Karten, Rosenkränze, gemalte Bilder und Fotografien in die textilen Behänge eingearbeitet. Die recycelten Stoffe bilden ein sozio-materielles Archiv, repräsentieren individuelle Geschichten und sind gleichzeitig eine Anspielung auf weiblich konnotierte Handarbeit.

Re-Enchanting the World ist der Titel der bisweilen bekanntesten Arbeit von Mirga-Tas, die erstmals 2022 im polnischen Pavillon auf der Biennale in Venedig zu sehen war. Nun verhüllen die monumentalen Wandbehänge den Hauptraum der Ausstellung im Kunstmuseum Luzern. Horizontal gelesen ergeben sich drei Erzählebenen, gegliedert nach dem Zyklus der Jahreszeiten und ihren Sternzeichen. Wer dabei an den Freskenzyklus aus dem 15 Jh. im Palazzo Schifanoia in Ferrara denkt, liegt richtig. Statt Szenen aus der Antike verbindet Mirga-Tas in ihrem Bildprogramm fiktive und tatsächliche Lebensrealitäten von Rom*nja. Der Vorstellung von Heimatlosen, die von Ort zu Ort ziehen, setzt sie mit ihrem Bildprogramm das Leitmotiv der Lebensreise entgegen und zeigt das Eingebettetsein in Landschaft und Gemeinschaft. Gleichzeitig hinterfragt Mirga-Tas anhand historischer Bildbezüge die europäische Kulturgeschichte und ihre jahrhundertealten stigmatisierenden, stereotypen und rassistischen Vorurteile und Gewaltformen gegenüber Rom*nja. In ihrem Animationsfilm Noncia, 2022, der erstmals im Ausstellungskontext gezeigt wird, greift Mirga-Tas die Geschichte der Holocaust-Überlebenden Alfreda Noncia Markowska (1926–2021) auf. Die polnische Romni hat als Sechzehnjährige während des Zweiten Weltkriegs etwa fünfzig Roma- und jüdische Kinder vor der Vernichtung durch die Nationalsozialisten gerettet, indem sie sich mit ihnen im Wald versteckte.

Małgorzata Mirga-Tas, Herstories, 2019–2025, Stoff, Acryl und Mixed
Media, Ausstellungsansicht Kunstmuseum Luzern, 2025. Foto: Marc Latzel
Małgorzata Mirga-Tas, Herstories, 2019–2025, Stoff, Acryl und Mixed
Media, Ausstellungsansicht Kunstmuseum Luzern, 2025. Foto: Marc Latzel

Im Nebenraum hängen überlegensgrosse Porträts von der Decke. Die Serie Herstories, 2019–2025, ist eine Hommage an selbstbestimmte und erfolgreiche Frauen aus der Rom*nja- Gemeinschaft. Selbstdarstellung von Frauen, die Befreiung des Körpers und die Ausdehnung des Privaten ins Öffentliche sind Themen, die einen wesentlichen Teil von Mirga-Tas Kunst ausmachen. Der letzte Raum der Ausstellung ist schliesslich einer Serie von Paravents von 2021–2025 gewidmet, die das Thema der Sichtbarkeit aufgreifen. Als Trennwände symbolisieren sie, was wir sehen und was uns von anderen Lebensrealitäten, von individuellen und kollektiven Erinnerungen verborgen bleibt.

Rund 12 Millionen Rom*nja leben in Europa und bilden die grösste selbstständige Bevölkerungsgruppe. In Deutschland und anderen europäischen Ländern sind sie eine anerkannte nationale Minderheit und haben ein Recht auf ihre eigene Kultur und Lebensweise. Während Jenische und Sinti in der Schweiz seit 2016 als nationale Minderheit anerkannt sind, steht dies für Rom*nja noch aus.
Mirga-Tas setzt sich mit ihrer Kunst gegen Antiziganismus und für die Sichtbarkeit von Rom*nja ein. Mit den Mitteln der bildenden Kunst schafft sie einen sinnlichen und partizipativen Zugang und zeigt das Bild einer wandelbaren und transkulturellen Gemeinschaft. Wer sich die Zeit nimmt, entdeckt in der Fülle der Stoffe einen aufgenähten Satz, dessen Inhalt allzu oft übersehen wird: «We are challenging Europe. We Roma have always challenging the system around us».

Małgorzata Mirga-Tas, Eine alternative Geschichte, Kunstmuseum Luzern bis 15.6.