Wir fürchten, wir brauchen eine Erklärung

Eine Sammlung nie gehörter Befürchtungen
1. Ich befürchte, dass niemand mehr meine Kunst ehrlich und sorgfältig unter die Lupe nimmt, dass ich nur jeweils falsches Lob von den Leuten um mich herum höre, und dass ich und meine Praxis eigentlich mit Abscheu und Langeweile betrachtet werden.
2. Ich befürchte, dass die Galerie nie wieder in meiner Zeitschrift eine Anzeige auch zu einem massiv reduzierten Preis kaufen wird. Deswegen werden wir uns nicht mal das Papier leisten können, ganz zu schweigen von den schon miserablen Gagen der Kritiker:innen, und bald bankrott gehen.
3. Ich befürchte, dass ich nicht mehr für mich selbst denken kann, dass was ich «like» nur von dem Wind der sozialen Medien getragen wird. Ein Wind, der eigentlich kein organisches Crowddenken beweist, sondern auf den Zug der meistzahlenden Institutionen aufspringt.
4. Ich befürchte, dass einer Kunstinstitution die Mittel zusammengestrichen werden, wenn ich zu negativ über sie und ihre Ausstellungen schreibe. Verstehen die Leser:innen, dass ich mit meiner Kritik an der Arbeit einer Institution nicht beabsichtige, die Existenz der Institution an sich in Frage zu stellen?
5. Ich befürchte, dass ich in jeder Kunstkommission kritischer bin als in meinen Kunstkritiken, weil ich dort Geld verteilen kann, und nicht nur Lob oder Tadel. Ich gebe zu, dass ich mich in dieser Rolle auch wesentlich mehr wertgeschätzt fühle – und besser bezahlt werde.
6. Ich befürchte, dass ich nicht mehr als Leser:in angeschaut werde, sondern als Person, die möglichst viele und möglichst schnell aufeinanderfolgende Clicks auf einem Bildschirm vollführt. Dafür könnte ich auch einen Bot anstellen – und hätte dann wieder Zeit zum Lesen von Kunstkritiken.
7. Ich befürchte, dass ich den Eindruck erwecken werde, mit den politischen Parteien übereinzustimmen, die die Kulturfinanzierung kürzen und das private Mäzenatentum fördern wollen. Als Ergebnis meiner Arbeit wird die Kunstwelt noch mehr zu einem feudalistischen Eitelkeitsprojekt für diejenigen, die Geld übrig haben.
8. Ich befürchte, dass ich das Kritiker:in-Sein nur noch für meine Peers performe – und irgendwann nur noch an Performance-Festivals eingeladen werde.
9. Ich befürchte, dass meine Zeitung sich den Luxus einer Kunstberichterstattung nach altem Muster nicht mehr leisten kann. Stattdessen setze ich gleich auf das Verkaufen von Kunst – mit Hilfe meiner Zeitung.
10. Ich befürchte, dass ein völlig unerwarteter Mix von Zufällen die Kunstkritik plötzlich wieder boomen lassen – und ich deshalb keine Zeit mehr zum Kuratieren von Ausstellungen oder zum Betreuen einer Sammlung einer Privatbank habe.
11. Ich befürchte, dass meine spekulativen und halbformulierten Ideen über Politik in der fiktiven Arena der Kunst ernst genommen werden und sogar zu einem Regimewechsel führen, der es einer unreifen Partei ermöglicht, die Macht zu übernehmen.
12. Ich befürchte, dass sich meine Kritik an der Ausstellung verbreiten wird. Familien werden von weit ausserhalb der Region anreisen, um die Ausstellung zu sehen und die kleine städtische Galerie überrennen, deren Personal mit den Besucher:innen überfordert sein wird. Der Selecta-Automat wird tagelang leer bleiben.
13. Ich befürchte, dass meine Kurzkritiken auf Social Media viel zu viele User:innen anziehen und ich irgendwann Werbeanfragen von Füllfederhalterfirmen oder Radiergummiproduzent:innen abwehren muss.
14. Ich befürchte, dass meine Texte eine ganze Generation zum Studium der Kunstgeschichte und der Critical Theory inspirieren wird, was zu einer Krise an den Universitäten führen wird, da die Hochschulleitungen weder die Welle der Beliebtheit dieser Studiengänge verstehen noch die Nachfrage bewältigen können.
15. Ich befürchte, dass ich nicht mehr zur Elite gehöre.
16. Ich befürchte, dass wir jetzt eine Erklärung brauchen!
Das Ziel des AICA-Workshops 2024 vom 24. November war eine entschiedene Erklärung zur erwünschten Zukunft der Kunstkritik. Wir haben davor noch diese Befürchtungen formuliert – vielleicht, um die Erklärung danach aus Trotz noch entschiedener zu machen?
Einige Befürchtungen haben wir bereits von 2015 bis 2019 gehört, als wir mit Unterstützung von Pro Helvetia eine Reihe Gespräche – sie hiess Crritic!, ein sehr entschiedenes Schimpfwort aus Samuel Becketts Godot – organisiert haben. Mit den Workshops haben wir die – damals – aktuelle Lage der Kunstkritik in der Schweiz ausgelotet. Fünf Jahre später sieht das Umfeld wieder anders aus, es sind neue Befürchtungen dazugekommen – und neue Erklärungen werden gebraucht.
Wir verfassen diese Befürchtungen als Kritiker:innen, Künstler:innen, Kurator:innen, Verleger:innen, etc. (wir hatten noch mehr…).